Ein ergreifendes Buch über eine Abtreibung und ihre Folgen:
Kinder
spielen
in der öffentlichen Wahrnehmung dann eine Rolle, wenn sie
gequält, geschlagen, misshandelt oder gar getötet
werden. Man
nimmt wahr, dass Gerichte in schöner
Regelmäßigkeit Urteile
fällen, die Kinder zu unerwünschten
Störenfrieden erklären.
Gleichwohl wird davor gewarnt, dass die niedrige Geburtenrate
eine ernste Gefährdung der Struktur unserer Sozialsysteme
darstellt.
Keine Rolle spielt in unserer Gesellschaft das Drama, das sich um
die 140.000 Abbrüche (inoffiziell das Doppelte) abspielt. Das
seelische Leid und das tiefe Loch in das die Mütter, aber auch
die Väter fallen, werden nicht erwähnt - noch weniger
die Pein,
in der sich ein ungeborenes Kind befindet.
Eine Mutter bricht dieses Schweigen, indem sie in ihrem Tagebuch
minutiös den Weg von der Diagnose
„Down-Syndrom“ über
die Entscheidung zu einem Abbruch und die damit verbundenen
Folgen für Mutter, Familie und Kinder beschreibt. Das Leben
verändert sich mit einem Schlag, Die seelischen Qualen, die
Verzweiflung sind ungeahnte Folgen einer scheinbar
„normalen“ Entscheidung.
Der eigentliche Skandal, ein Kind zu töten, auch wenn
Gesellschaft und Politik diese Schritt für legal ansehen,
führt
dazu, dass man auf die Folgen eines Abbruchs nicht oder nur sehr
unzureichend vorbereitet wird.
Mit „Lysander - Grenzerfahrung einer Mutter“ wird
das
Schweigen durchbrochen, wird das Leid sichtbar und fassbar. Die
Verfasserin steht inzwischen mit vielen Frauen in Kontakt, die
ebenfalls nicht mehr mit ihrem Leben nach dem Abbruch im Reinen
sind. Manche trifft es gleich, andere erst später. Letztlich
holt es jede Frau früher oder später ein.
Dieser Bericht handelt von einer Frau, die in diesen Tagen ihr
Kind zur Welt gebracht hätte und an den Folgen des Abbruchs
fast
seelisch zugrunde gegangen ist.
Mit Anfang Vierzig wurde Marianne N. schwanger. Zwar ungeplant,
aber dennoch freute sie sich und die Familie über den
Nachzügler.
Die Freude währte allerdings nur kurz. Ein Frauenarzt
registrierte Unregelmäßigkeiten und
drängte, bedingt durch das
altersmäßig erhöhte Risiko, zu einer
Fruchtwasseruntersuchung.
Hin- und Hergerissen, ob sie es tun sollte oder nicht, wurden
Freunde, Bekannte befragt was sie in ihrer Situation tun
würden.
Letztlich überwog der gute Rat, doch lieber sicher zu gehen,
„schließlich wollt ihr ja kein behindertes
Kind.“
Schon mit großer Angst wurde der Test gemacht und die
zweiwöchige Wartezeit zwischen Hoffen und Bangen war nur sehr
schwer zu ertragen.
Eines Tages war eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, dass ein
Rückruf bei dem Frauenarzt dringend geboten sei. Schon bei dem
Wählen schwang die Angst mit und kurze Zeit später
stand der
Befund „Trisomie 21“,
Down-Syndrom
– ein behindertes Kind - im Raum.
Die Hoffnung auf ein gesundes Kind war in diesem Moment
verschwunden.
Die vorher schon angespannte Situation wurde mit einem Mal zu
einer die ganze Familie betreffenden Schicksalsfrage. „Warum
wir?“ „Kann man sich irren?“
„Was sollen wir
jetzt tun?“ Nach kurzem Überlegen stand der
Entschluss
fest, dass es kein behindertes Kind sein sollte.
In der tiefen Not wurden Freunde und Bekannte befragt. Fast alle
rieten davon ab, sich mit einem behinderten Kind ein Leben lang
zu belasten, die Folgen wären nicht absehbar, niemand
könne die
Schwere einer solchen Behinderung feststellen, aber wir sollten
mit dem Schlimmsten rechnen. Immer wieder wurde darauf
hingewiesen, dass mit einem solchen Kind ein Leben immer am
gesellschaftlichen Rand verbunden sei, die Familie würde
ausgegrenzt, für die anderen Mitglieder der Familie
wäre keine
Zeit mehr vorhanden. Aber es gab auch Stimmen, die sagten:
„Kinder sind ein Geschenk Gottes, freut euch
darüber.“
Nach langen Diskussionen über ein Für und Wider hatte
Marianne
N. den bereits avisierten Termin in der Klinik abgesagt. Die
Familie hatte beschlossen, das Kind zu behalten. Einige Freunde
hatten sich gefreut. Die Zweifel aber blieben.
Im Internet wurde nach Berichten gesucht, über eine
Vermittlung
wird der Kontakt zu einer Mutter mit einem behinderten Kind
hergestellt. Viele wollten in der Entscheidungsfindung helfen,
auch hier rieten uns die meisten dazu, sich nicht auf ein solches
Risiko einzulassen. Irgendwann brach der Widerstand zusammen.
Marianne M. bekam Angst vor dem, was auf sie alle zukommen
würde.
Innerhalb weniger Tage wurde immer wieder das Für und Wider
bewertet, abgewogen. Die Spannung innerhalb der Familie war zum
Greifen nah. Schlaflose Nächte und zahllose Tränen
waren die
Folge. Schließlich wurde kein anderer Ausweg mehr gesehen,
als
den Schritt des Schwangerschaftsabbruchs, um die Familie zu
retten.
In der Klinik wurden die Eltern freundlich behandelt - von der
Untersuchung über die Anästhesie auf die Abteilung
gebracht,
die doch normalerweise glückliche, werdende Mütter
aufnimmt.
Was folgt sind fast zwei Tage unmenschlichen Wartens auf die
Totgeburt des eigenen Kindes. Nachdem der Prozess in Gang gesetzt
wurde, gab es kein Zurück mehr. Die Mutter streichelte den
Bauch
mit dem Leben, das sie jetzt beenden wird. Von Anfang an
fließen
Tränen. Niemand sieht die Tränen und die Angst.
Gegen Abend kam ein Seelsorger zum Gespräch mit der in
Tränen
aufgelösten Mutter. Unbeobachtet fragte er nach, ob der
Prozess
noch zu stoppen wäre. Es war zu spät. Auch sein Trost
löste
die Qual und die Trauer nicht. Erst am Mittag des folgenden
Tages, draußen liegt frisch gefallener Schnee, begannen die
Blutungen und wenige Minuten später kam das kleine
unschuldige,
tote Kind mit Hilfe einer Krankenschwester ans Tageslicht.
Sie nahm es mit, um es später, hergerichtet, zu bringen. Nach
der Nachuntersuchung wurde uns erst eine Mappe mit Fotos unseres
Kindes, eine Sterbeurkunde und einen kleinen Fußabdruck
überreicht. Beide Elternteile waren noch völlig
fassungslos.
Wenig später wurde das Kind gebracht, um sich von ihm
verabschieden zu können. Es war ein vollständiges
Kind, es
fehlte nur noch an Größe. Ein Mensch. Eine Stunde
verabschiedeten sich die Eltern allein von dem Kind. Danach
sitzen beide zusammen und wussten, dass sie es getötet hatten.
Der Seelsorger versuchte noch, im Gespräch die seelische Not
zu
lindern und bestärkte beide darin, dass Kind zu bestatten. Es
sollte einen Platz bekommen, an dem die Eltern jederzeit das Kind
besuchen konnten.
Nach Hause zurückgekehrt stellt man erst wirklich fest, dass
man
zwar auf vieles vorbereitet wurde, aber nicht auf den schwarzen
Strudel, mit dem man nach unten gerissen wird. Jetzt erst wird
das Gefühl, dass Kind getötet zu haben, zur
Gewissheit.
Doch neben den ersten Therapiebesuchen und den Vorbereitungen
für ein würdiges Begräbnis waren es immer
wieder die Tränen
und die eigene Ohnmacht, die die Mutter einholten.
Schließlich
stürzte sie in ein tiefes Loch und wollte am liebsten sterben.
Die Sehnsucht, zu ihrem Kind zu kommen war fast
übermächtig,
nur die Sorge um die eigenen zwei kleinen Kinder hielt sie davor
zurück. Nichts war mehr wie vorher.
In den nächsten Tagen beginnt eine rege Betriebsamkeit, alles
sollte richtig gemacht werden. Die Verabschiedung wurde
vorbereitet, ein kleiner Schatulle mit Briefen, Fotos und kleinen
Geschenken. Die Bestattung würde auf einem Platz, in dem
bereits
andere Familienmitglieder ruhen, stattfinden.
Bis zur Beerdigung nur im Kreis der Familie und einem Seelsorger
drehte sich alles um das Kind. Niemals hätte sie das Kind, das
sie in ihrem Leib trug, hergeben dürfen. Der innere Schrei
blieb
ungehört. Tag und Nacht fließen die Tränen
in Strömen –
niemand war in der Lage, ihr zu helfen.
Die Therapie für beide Elternteile brachte nur kurzfristig
Linderung. Es war immer noch der unsagbare Schmerz: „Wie
konnte ich dich bloß hergeben?“
Erst die Hilfe eines Arztes, der den älteren Sohn behandelte,
brachte wieder Mut und Lebenswillen zurück. Die
nachträgliche
Taufe erfüllte die Mutter mit einer gewissen Befriedigung und
sie schöpfte damit neuen Lebensmut. Die Kraft leben zu wollen,
auch den eigenen Kindern zuliebe. Aber auch der Glaube war ein
wichtiger Baustein, der den Anstoß gab, sich einzugestehen,
einen Fehler begangen zu haben und Gott und das Kind um
Verzeihung zu bitten. Als Christin und Mutter war sie sich
sicher, hätte sie vor dem Eingriff das Buch „Myriam
–
warum weinst Du?“ (Stiftung Ja zum Leben) gelesen, das auf
die Folgen hingewiesen hätte – niemals wäre
es zu einem
Abbruch gekommen.
In den jetzt folgenden Gesprächen mit Frauen, die bereits
einen
Abbruch hinter sich gebracht hatten kristallisierte sich heraus,
dass ein solcher Einschnitt seelisch von keiner Frau verkraftet
wurde. Manche holte es noch Jahrzehnte später wieder ein. Ein
Arzt berichtete, dass noch Jahre nach den Abbrüchen
Mütter nach
Unterlagen oder Ultraschallbildern ihrer toten Kinder suchen
würden.
Mit dem Entschluss, diese Erfahrung an die Öffentlichkeit zu
bringen, sich aber auch selbst mit dem Thema noch einmal in allen
Einzelheiten zu befassen, begann auch die Phase der Aufarbeitung.
Aller Schmerz und Trauer mussten noch einmal durchlitten werden.
Frauen in gleicher oder ähnlicher Situation sollte in ihrer
Entscheidungsfindung geholfen werden. Das Tagebuch sollte alle
Facetten der Tragödie aufzeigen, die eigenen
Beweggründe weder
schönen noch die Gedanken verschweigen. Mit dem Wissen, dass
Frau N. heute hat, würde sie einen solchen Schritt nie wieder
machen. Gerade das, was man doch zusammenhalten wollte, wird im
Nachhinein zerstört. Dieses Buch soll andere warnen, sich
vorher
über die möglichen Folgen zu informieren und auch die
unbequemere Lösung zu bedenken. Für sich selbst
weiß sie, dass
Gott ihr verziehen hat und sie wird sich dafür einsetzen, dass
man nicht leichtfertig eine Entscheidung über ein Leben
–
ob behindert oder nicht - treffen darf. Sie hat sich geschworen,
dieses Buch bis zum Geburtstag ihres Kindes herauszubringen, auch
wenn sie als Hausfrau und Mutter keinerlei Erfahrung besitzt. Sie
hat mit allen Frauenärzten gesprochen, mit dem
Krankenhauspersonal, mit ihren „Beratern“, um
dieses
authentische Buch zu schreiben. Sie hat es ihrem Sohn, Lysander,
und Gott versprochen. Sie weiß, dass er ihr verziehen hat.
Das
Leben heute – ohne ihn – ist anders. Lysander aber
lebt
in ihrem Herzen weiter und begleitet sie jeden Tag auf ihrem Weg
mit guter Musik, außergewöhnlichen Begegnungen. Das
gibt ihr
Kraft und Hilfe. Auch ohne die Kraft, die sie aus ihrem Glauben
zieht, wäre es kaum möglich gewesen, das Buch in so
kurzer Zeit
zu schreiben. Die Narbe aber bleibt. Niemand kann den Schmerz
einer Mutter teilen, das eigene Kind im Mutterleib getötet zu
haben.
Text von Marianne Neeb. Unten finden sich einige Auszüge aus dem Buch. Herzlichen Dank an Frau Neeb für die freundliche Wiedergabe-Erlaubnis!
27.01.06,
Fr.
Morgens bin ich in die Kirche gefahren. Zufällig war gerade
Messe.
Nach der Messe überlegte ich, ob ich vielleicht den alten
Pfarrer
oder den Kirchendiener ansprechen sollte. Ich habe es lieber
gelassen, weil ich dachte, die würden mich nicht verstehen und
könnten mich sicherlich nicht überzeugen. Lieber
versuchte ich
in
mich hinein zu horchen. Aber ich musste nur weinen. Ich habe mich
in der Kirche nach einem Zeichen umgesehen. Es war nichts
Auffälliges zu erkennen. Ich wünschte mir das Kreuz
hinter dem
Altar würde von der Wand herunterfallen. Leider war dem nicht
so.
Zum Schluss hatte ich mir eingebildet im Tabernakel ein
Kindergesicht zu erkennen. Es sah von weitem aus wie das letzte
Ultraschallbild aus dem Krankenhaus. Ich bin näher an den Altar
gegangen und wollte sehen, was es war. Der Tabernakel war mit
bronzeähnlichem Metall beschichtet und hatte unterschiedliche
Vertiefungen. Eigentlich nichts Besonderes. Ich bin dann wieder
heulend nach Hause gefahren und berichtete meinem Mann davon.
Uns wurde immer bewusster, dass wir selbst entscheiden mussten.
Mein Mann kam in die Küche und ich weinte wieder. Er hat mir
den
Vorschlag unterbreitet, was ich davon halten würde, das Kind
vielleicht doch zu behalten. Als ich das gehört hatte,
hörte
ich auf zu
weinen. Er meinte, er möchte nicht zu der Wegwerfgesellschaft
gehören und möchte sich nächsten Tag noch im
Spiegel anschauen
können. Er fügte noch hinzu, egal wie du dich
entscheidest, ich
stehe hinter jeder Entscheidung. (Hierfür bin ich ihm sehr
dankbar
gewesen, sonst wären wir heute nicht mehr zusammen). Kurz
darauf habe ich an meine Schwiegermutter gedacht. Sie hat mir
einmal im Garten gesagt: „Ich nehme das Leben so an, wie es
kommt.“ Mein Mann hat auch vorgeschlagen ab sofort ein
Sparkonto
für das Kind einzurichten, damit es im Alter versorgt ist.
Bezüglich
eines neuen Taufpaten wollten wir uns auch Gedanken machen. In
seiner und meiner Familie waren alle Mitglieder bereits mit
Patenschaften gut versorgt. Und wir wollten keinen mit einem
behinderten Kind belasten.
...
31.01.06,
Di.
Morgens im Bad fragte ich meinen großen Sohn, ob wir uns
vielleicht einen integrativen Kindergarten zusammen anschauen
wollten. Er hatte es abgelehnt, da es ihm Angst machte. In den
letzten Tagen hatte er sich sehr mit Behinderungen beschäftigt.
Mein Großer hatte sogar gefragt, ob sein kleiner Bruder
eventuell
auch behindert wäre, weil er sich öfters komisch oder
frech
verhalten würde. Seine Frage hatte mir etwas zu Denken gegeben.
Ich konnte ihn nicht überzeugen mitzugehen und hatte es auch
selbst sein lassen.
Am späten Nachmittag hatte ich meinem großen Sohn
dann
mitgeteilt, dass ich am nächsten Tag ins Krankenhaus gehen
würde.
Er dachte ich würde das Baby jetzt schon nach Hause bringen.
Ich
verneinte und sagte, dass wir es doch wegmachen lassen würden.
Er schaute mich etwas erstaunt an und meinte, wir könnten dem
Baby doch Mulivitamin oder Dextro geben, damit es Kraft bekäme.
Ich versicherte ihm, dass das nicht so einfach wäre und dass
diese
Kinder viel anfälliger wären als alle anderen.
In einem Telefongespräch mit meiner Freundin M. aus dem
Odenwald fragte sie mich: „Und - wie habt ihr euch
entschieden?
Und sag’ schon, du behältst es?“
„Nein, ich gehe
ins Krankenhaus,
da man nicht absehen kann, wie stark die Behinderung
ausfällt.“
Abends als ich meinen kleinen Sohn ins Bett brachte, hatte ich
auch
ihm vom Krankenhaus erzählt. Ich werde nie seine Blicke
vergessen. Er rollte seine kleinen mandelförmigen Augen
verzweifelt
hin und her, um nicht zu weinen. Spontan sagte er: „ Mama
behalte
es doch einfach.“ Die Entscheidung war mir sehr schwer
gefallen
aber ich konnte es leider nicht mehr ändern, das Kind doch zu
behalten.
...
Ich
dachte
immerzu, so ein schönes Kind. Mein Mann meinte, wie
gut, dass man von der Behinderung nichts sieht. Ich fing an
Lysander zu streicheln. Er fühlte sich etwas kalt an.
Schließlich war
er ja auch tot. Meine Hände waren viel zu rau für das
zarte
Geschöpf. Ich musste ihn ständig berühren.
Ich fragte meinen
Mann,
ob wir ihm vielleicht Küsschen geben sollten. Er meinte lieber
nicht.
Ich habe es trotzdem gewollt. Da er auf der Seite lag, küsste
ich ihn
auf die Backe. „Du musst es auch machen“, sagte
ich.
Auch er
küsste unser Kind. Ich wollte das Kind am liebsten behalten
und
mit
nach Hause nehmen. Dass das nicht ging, wusste ich. Ich hätte
es
mir auch gerne auf den Bauch gelegt, so wie es üblich ist nach
einer
Entbindung. Dabei hatte ich etwas Bedenken, ihm weh zu tun und
außerdem trug ich noch das lange weiße
Krankenhaus-Hemdchen.
Halb sitzend im Bett, war alles so umständlich. Also habe ich
es
gelassen. Wir schauten uns Lysander noch lange fassungslos an.
Mein Mann meinte: „Er sitzt jetzt auf einem Stern und
baumelt mit
den Füssen. Ihm geht es gut und er ist uns nicht
böse.“
Daraufhin
ging plötzlich das Radio an und wir hörten ein leises
amerikanisches
Lied, gesungen von einer Frau. Ich war leicht erschrocken.
„Siehst
du“, sagte mein Mann, „Er antwortet uns, dass es
ihm
gut geht. Er
ist uns nicht böse.“ Die Schwester kam herein und
fragte,
ob wir
unser Kind noch behalten möchten, es wäre
möglich. Doch ich
beschloss, unser Kind nun abzugeben.
Wir sagten Lysander noch tschüss und küssten ihn ein
letztes
Mal.
...
12.02.2006,
So
Ich beobachte, wie mein Mann mit den Kindern spielte und wie
liebevoll er mit ihnen umging. Voller Wehmut dachte ich daran,
dass
auch Lysander mit Ihnen spielen würde. Mein kleiner Sohn tobte,
machte Purzelbäume und war teilweise völlig
überspielt –
lief mit Hut
und Perücke herum – alles Dinge, die ich mir bei
Lysander
auch gut
vorstellen konnte. Er wäre bestimmt ein liebenswertes,
verspieltes
Kind gewesen. Wieder standen mir die Tränen in den Augen. ...
Zu Hause habe ich dann auch sehr schnell festgestellt, dass meine
Kinder in seelischer Not waren. Der Große war an diesem Tag
gar
nicht in der Lage seine Hausaufgaben zu machen.
Nichts ging ihm von der Hand. Ich setzte mich mit einem Stuhl
dicht
an seinen Schreibtisch und habe einfach nur dabei gesessen. Das
hat ihm sehr geholfen und gut getan.
Die Kinder hatten untereinander leichte Aggressionen. Bei der
kleinsten Berührung, fing einer fast an zu weinen. Ich
versuchte
sie
zu beruhigen. Sie konnten schließlich auch nichts
dafür, dass
ihre
Mutter völlig neben der Spur war.
Mein Mann musste abends die Hausaufgaben nachsehen und mit
den Kindern üben. Ich war zu nichts mehr in der Lage. Meine
Blutungen hielten bereits fast 14 Tage an. Mein Mann wollte mich
unbedingt zum Arzt schicken. Doch ich wollte nicht gehen, da ich
leider das Vertrauen zu den Ärzten verloren hatte.
...
Am
nächsten
Morgen durchfuhr mich eine schreckliche Vorstellung:
Wenn das Kind nun nach der Geburt die Augen geöffnet
hätte.
Wenn es mich mit seinen Glitzeraugen angeschaut hätte. Ich
wäre
wirklich aus dem Fenster gesprungen. Ich hätte nicht mehr leben
wollen.
Auf dem Dachboden suchte ich nach den Babyalben meiner Kinder.
Tagelang betrachtete ich sie mir und schaute ständig nach ihren
neugierigen Augen. Wie schön doch damals alles war.
Nach der vierten Woche hörten die Blutungen nun langsam auf.
Vormittags rief ich U. (Pastorfrau) an. Ich war völlig am
Ende.
Ich
erzählte ihr noch einmal ausführlich den Abbruch, wie
ich mir
noch
bis zum Schluss den Bauch gehalten habe. „U., es war so
schrecklich. Was habe ich nur meinem Kind angetan. Am Ende
meines Lebens wird Lysander kommen und mich anklagen: „Mama,
warum hast du es getan?“ Welch eine grauenvolle Vorstellung
für
mich.“
Warum ist in unserer Gesellschaft niemand in der Regierung, der
das mal so laut sagt? Ich habe keine Kraft mehr. Andere haben
mich
umgestimmt. Ich kann nicht mehr. Alles würde ich
dafür
hergeben,
um mein Kind zurückzubekommen. Und wenn ich nur im Hemdchen
dastehen würde, meine Familie und ich.
Ich kann es mir nicht verzeihen mein Baby umgebracht zu haben.
Wird Lysander mir das jemals verzeihen? „U. schicke mir alle
Frauen, die schwanger sind. Ich möchte sie alle haben und
beraten.
Ich muss sie davor warnen einen Abbruch zu machen.“ Das
wollte
sie auch in die Gemeinde weiter tragen. Denn keiner kann das so
gut nachempfinden und beraten, wenn er es nicht selbst erlebt
hat.